Neugier


 
Das große Plakat neben der Tür war nicht zu übersehen. „Was legen wir unter den Weihnachtsbaum? Podiumsdiskussion rund ums Schenken.“ Diagonal über die linke obere Ecke klebte in Neongrün ein Zettel: „Heute – 19.00 Uhr – Eintritt frei“.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Kurz vor sechs. Eigentlich war sie auf dem Heimweg, aber dort wartete niemand auf sie. Eigentlich war es noch recht früh und vermutlich alles geschlossen. Sie legte ihre Hand auf die Türklinke, drückte sie nach unten und zog vorsichtig. Mit leisem Knarzen gab die Tür nach und öffnete sich. Sobald der Spalt breit genug war, schlüpfte sie hinein.
Sie wartete, bis sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Anscheinend stand sie in einem Vorraum, der als Garderobe diente. An der rechten Wand konnte sie eine Reihe Kleiderhaken erkennen. Links zwei Türen, in Augenhöhe stilisierte Figuren, die Toiletten. Ihr gegenüber schimmerte ein senkrechter Strich hell zwischen den beiden Flügeln einer weiteren Tür. Dahinter musste der Saal sein, in dem die Veranstaltung stattfinden sollte.
Ein paar Schritte, ein Griff zur Klinke, die Tür schwang auf. Geblendet schloss sie die Augen.
„Sie sind zu früh. Einlass ist erst um halb sieben.“ Die Männerstimme klang bestimmt aber freundlich.
Sie öffnete die Augen, zwinkerte ein paar Mal. Die Konturen einer Bühne schälten sich aus dem Licht. Darauf eine Reihe Tische und Stühle, Mikrofone, Blumenschmuck. Und der Mann, der sie angesprochen hatte.
„Entschuldigung, ich hatte das Plakat gesehen. Ich war neugierig und dachte, ich probiers einfach.“ Sie lächelte und wurde ein bisschen rot. „Darf ich bleiben?“
„Wenn Sie schon mal da sind … Suchen Sie sich einen Platz, Auswahl ist ja genug.“ Er grinste, drehte ihr dann den Rücken zu.
Sie sah sich um. Der kleine Saal maß etwa acht Meter in der Breite und war doppelt so lang. Wände und Decke waren cremefarben gestrichen und mit Stuckornamenten verziert. Moderne Stühle standen in mehreren Reihen auf einem frisch abgezogenen Eichenparkett. Der Geruch nach Lack hing noch in der Luft. Drei Stufen an der rechten Seite führten auf die Bühne, deren Hintergrund ein weinroter Samtvorhang bildete. Es knackte, dann schwebten aus unsichtbaren Lautsprechern leise Klänge eines Saxophons durch den Raum.
Sie schlenderte den Gang zwischen den Stuhlreihen entlang, zog ihre Jacke aus, hängte sie über eine Stuhllehne in der ersten Reihe und setzte sich.

(…)
 

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